Touristenmagnet oder Altlast?
Zur Gabler-Orgel in der Basilika Ochsenhausen
Thomas Fischer
Über die weltberühmte Monumentalorgel der kürzlich zur Basilika erhobenen Klosterkirche zu Ochsenhausen ist schon vieles geschrieben bzw. publiziert worden – auch im Internet ist die letzte Restaurierung im Sinne einer „Genese“ durch die Firmen Kuhn (Männedorf) und Klais (Bonn) nachzulesen. Der Reichtum der Klöster in dieser Zeit war es, der den Nährboden für die prachtvollen Orgelanlagen und kleinen Sonderentwicklungen im Orgelbau des damaligen Schwabens bildete.
Die üppige Ausstattung mit Grundstimmen und Farben der Orgel (1728-1736) von Joseph Gabler bilden eine unerschöpfliche Inspirationsquelle für den Organisten im Gottesdienst und Konzert. Die sprichwörtliche schwäbische Sparsamkeit wird an dieser Orgel geradezu ins verschwenderische Gegenteil verkehrt: So finden sich zum Beispiel drei Quintadenregister in der 8’- Lage sowie eine Fülle von Streicherstimmen in allen Variationen. (Salicional, Viola di Gamba, Viola, Violoncel und Violonbass 2fach). Weil das alles noch nicht reicht, disponierte Joseph Gabler (1700–71) noch weitere Farbregister: Piffaro 2fach im Solo- und Brustwerk. Alles dezent gehalten und milde im Klang – Pastellfarben in allen Variationen!
Bestandsaufnahme
Meine erste Begegnung mit der Gabler-Orgel in Ochsenhausen bei meinem Amtsantritt im Oktober 2017 war teilweise ernüchternd. Die langen Trakturwege des Pedals (zwei Windladen plus Prospektlade) waren dereguliert, und immer wieder brachen Messinghaken, was oft zu einem Totalausfall des betreffenden Tons führte. Natürlich darf man von einer Denkmalorgel keine vollkommene Egalität in punkto Intonation und Ansprache erwarten, aber hier war zum Beispiel die Vox humana 8’ des Brustpositivs infolge vieler Ausfälle und teilweise langsamer Ansprache musikalisch kaum verwendbar. Meine erste Zungen-Nachstimmung war eine interessante Erfahrung: Manche Regalzungen waren einfach nicht zu stimmen, nach einigen Sekunden war der Ton zu hoch; eine Stimmkonstanz schien unmöglich. Ich lernte (anfangs durchaus verzweifelt) etwas Wichtiges: „Du musst die Orgel und dich in Ruhe lassen“!
Wenig später fand ich die Ursache in den pumpenden Bälgen im Nebenraum: Pneumatische Apparate unter den fünf Keilbälgen (zu Gablers Zeiten deren sechs, heute etwas kleiner dimensioniert) steuern (oder besser gesagt imitieren?) eine „atmende“ Windversorgung. Durch die engen Kanzellen und den niedrigen Winddruck reagieren besonders die kurzbecherigen Zungenregister im Brust- und Echowerk sehr empfindlich auf kleinste Druckschwankungen. Eine gewisse Zeit brauchte ich auch, um herauszufinden, welche Register sich gegenseitig den Wind „wegfressen“. So darf z. B. im Hauptwerk (II) das Cornett nicht mit dem Prinzipal 8’ zusammengezogen werden; im Brustwerk sorgt das Piffaro-Reegister 4’ zusammen mit anderen Registern für sehr labile Windverhältnisse. (Gabler hat nur wenige und sehr kurze Windleitschiede in die ohnehin engen Kanzellen eingefügt)
Im Licht der Öffentlichkeit
Von der Pfarrgemeinde St. Georg werden für Besucher gruppen und Interessierte drei unterschiedliche (kos tenpflichtige) Orgelpräsentationen angeboten. Darunter ist die große Orgelführung mit der Begehung der Gabler-Orgel ein Highlight: Nach der Einführung im Mittelschiff der Basilika gibt es hinter der Chororgel ein Orgelmodell zu besichtigen. Dort können die Besucher den (für Laien durchaus komplizierten) Mechanismus einer Schleifwindlade sehen. In praktischer Nähe kann auch das Wellenbrett sowie die Balganlage mit drei Keil bälgen der Orgel (1780) von Joseph Höß besichtigt wer den. Anschließend führt der Weg durch das Dach des Seitenschiffs zur Gabler-Orgel. Ob die rekonstruierte Keilbalganlage mit Tretmöglichkeit, der Blick in das Pfeifenwerk des Brustpositivs oder der prachtvolle Spieltisch mit seinen vier Klavieren – all dies hinterlässt meist einen imposanten Eindruck auf die Teilnehmer. Auch für mich sind diese großen Orgelführungen jedes Mal beglückend: Es ist die schönste Tätigkeit hier!
Ebenso werden auch für Schulklassen Orgelführungen angeboten. Und in unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich die Landesakademie für die musizierende Jugend in Baden Württemberg. Direktor Klaus Weigele liegt die Verbindung zur Katholischen Kirchengemeinde und die Einbeziehung der Gabler-Orgel in das Kursangebot der Akademie sehr am Herzen. Jährlich findet vor den Sommerferien in Rahmen der International Summer Academy of Music (ISAM) ein Orgelinterpretationskurs unter der Leitung von Jürgen Essl (Musikhochschule Stuttgart) statt. Er vermittelt den Studenten die aufführungspraktischen Besonderheiten Alter Musik an den historischen Instrumenten der Region. Den Abschluss des Kurses bildet der Joseph-Gabler-Wettbewerb, der in diesem Jahr schon zum 9. Mal abgehalten wird (s. Info). Parallel finden dazu Orgelkonzerte der Dozenten statt. Vom 20. bis 23. Juli bieten wir in diesem Jahr außerdem einen Meisterkurs für Orgelimprovisation mit Wolfgang Seifen an.
Ein wunderbarer Kosmos
Bei der Aufführung von Orgelmusik nach Mendelssohn machen sich die Grenzen des Instruments hinsichtlich des Tonumfangs, der Windversorgung und Temperierung naturgemäß bemerkbar. Die 1939 erstmalig eingebrachte Erweiterung des Pedals bis d’ erlaubt eine relativ große Bandbreite von Literatur. Der originale Umfang der vier Manuale bis c3 verlangt von den heutigen Organisten Fantasie bezüglich der spieltechnischen Realisierung. Abgesehen vom Transponieren ganzer Stücke oder dem oktaversetztem Spiel einzelner Passagen (etwa bei Alains Variations sur un theme de Clement Jannequin) ist bei der Improvisation der eingeschränkte Umfang der Manuale leicht zu „umgehen“.
Als Basilikaorganist ist es immer wieder spannend, wie „modern“ das Instrument erklingen kann! Letztes Jahr hatte ich von Peter Eben A Festive Voluntary (Variations on the good king Wenceslas) gespielt; bis auf ein einziges d3 ist alles innerhalb des Tonumfangs dieser Orgel möglich. Ebens Orgelstück erklingt auf der Gabler-Orgel herrlich farbig, die intimen solistischen Passagen spiele ich auf dem Echowerk; zusammen mit dem Tremulanten ergeben sich hier geradezu unglaubliche Kino-Orgelklänge! Auch Alains Litanies ist bis auf wenige Töne am Schluss gut realisierbar und von verblüffender Wirkung. Durch die Viermanualigkeit der Anlage lässt sich dieses Werk sehr logisch ohne übermäßigen Registrieraufwand einrichten.
Natürlich zwingt das Fehlen von Spielhilfen den Interpreten vor allem im Gottesdienst zu einer ökonomischen Registrierweise; in Konzerten benötigt der Organist bei komplexeren Werken durchaus zwei Registranten. Hinsichtlich der Windversorgung ist bei vollgriffigem Spiel (besonders Doppelpedal) und schnellen Passagen (enge Kanzellen der Windladen) ein gewisses „Schlucken nach Wind“ selbstverständlich hörbar. Die ungleich schwebende Temperierung „erlaubt“ dennoch eine überraschend große Bandbreite von Tonarten, wobei das Ohr des Spielers (und des Zuhörers) möglicherweise etwas Zeit zur „Eingewöhnung“ braucht. Seit Oktober 2017 bin ich Basilikaorganist in Ochsenhausen; in dieser Zeit wurde ich immer wieder von der „Modernität“ und Genialität dieser historischen Orgel überrascht: Sie fordert auf, vieles selbstverständliche organistische Tun zu hinterfragen, evoziert neue Gedanken, Lösungen und Wege. Ein wunderbarer Kosmos ist diese „Gablerin“!
Aus:
organ – Journal für die Orgel 1/2020, © Schott Music, Mainz 2020
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Schott Music
organ-journal.com
Foto:
© Martin Doering, die-orgelseite.de